Blog-n-Roll - Aus dem Leben eines FernsehredakteursBlog-n-Roll

Durchdrehen zur Weltmeisterschaft

7. Juli 2014 - sk

Sein Geld damit zu verdienen, dahin zu reisen, wo andere Urlaub machen, das macht meinen Job schon zu einem Traumberuf. Doch das Leben als Fernsehfuzzi hat auch Schattenseiten: Man ist ständig unterwegs, ständig erreichbar, ständig flexibel – Alltag ist ein Fremdwort, es dominiert 24/7 die Unplanbarkeit des Privaten. Meine Freundin, Familie und Freunde können ein Lied davon trällern, wenn ich mal wieder spontan absagen muss. Das ist zuweilen bitter, richtig tragisch ist es aber, wenn die WM stattfindet. Dreharbeiten in London, Wien und Windhoek klingen auf Anhieb sexy, sind auch sexy, trösten mich aber wenig, wenn parallel das Ereignis läuft, auf das man vier Jahre lang wartet.

 

Vor der Weltmeisterschaft habe ich akribisch den gesamten Drehplan um wichtige – vor allem deutsche – Spiele herumgeplant. Eine Milchmädchenrechnung, denn es gibt diese besorgniserregenden Unwägbarkeiten des Drehalltags, die jeglicher Vorabplanung trotzen. So geschehen beim zweiten Gruppenspiel: Deutschland spielt gegen Ghana, das irgendwie ohne mich stattfindet.

 

Das Drama im Live-Ticker (nur nicht mehr live):

 

21.00h Anstoß in Brasilien, ich mit Kamerateam im Bus irgendwo zwischen Birmingham und London auf dem Weg zum Hotel. Habe mir den Platz neben dem Fahrer gesichert, um ihm die Tragik des Geschehens hautnah zu vermitteln. Mit „please give german Gummi“ versuche ich ihn scherzhaft zu ermutigen, uns schnellstmöglich ins Hotel zu befördern. Er schwärmt von der „german Autobahn“ und ich fühle mich verstanden.

 

21.03h Riesenidee: Ich gönne mir den mobilen Tagespass bei meinem Mobilfunkanbieter, um das Spiel im Livestream zu verfolgen. Muss dann aber schnell feststellen, dass das Spiel im Ausland aus rechtlichen Gründen nicht abrufbar ist. „Warumderscheißdann“ denke ich mir und verfluche moderne Technik, das öffentlich-rechtliche System, GEZ-Gebühren und Angela Merkel.

 

21.05h Busfahrer Mohammed bietet mir mit empathischem Blick sein Nackenhörnchen an. Als könnte ich jetzt schlafen!?

 

21.08h Statt Livestream habe ich nun den Liveticker via App. Für mich ist das nix. Ich sehe lieber anstatt zu lesen. Wollte ja auch nie Print machen, sondern schon immer Fernsehen. Fußball im Liveticker, das ist wie Erotikromane statt Pornos.

 

21.10h Mohammed, ein Mitdreißiger mit Wohlfühlfigur, Dauerlächeln und einem Conchita-Wurst-Bart, bietet mir den „Mo“ an und erzählt, dass er in Oxford studiert hat, ein Haus in Cambridge hat und eigentlich nur zum Spaß Fahrer ist. Den Spaß am Fahren merkt man ihm an. Er gibt ganz viel „german Gummi“.

 

21.25h Als Toni Kroos in Fortaleza aus 30 Metern abledert, ereignet sich in Höhe  Rieckmansworth, 14 Meilen (22 km) vor London, ein Drama: Mein Tonmann muss pinkeln.

 

21.29h Ich lasse mir die Wut über die Pinkelpause gegenüber dem Kamerateam nicht anmerken, vermute jedoch eine Verschwörung gegen mich. Inzwischen – mit etwas emotionalem Abstand – muss ich zugeben: Es war eine ehrliche Notdurft, mein Tonmann musste halt. Kostete trotzdem viereinhalb Minuten. Warum nur so viel stilles Wasser zum Abendessen!?

 

21.35h Mo(hammed) erzählt, dass er vor zwei Jahren in einem 911er geblitzt wurde. Mit 198 Meilen (316 km/h), ganze 200 km/h [!!!] über dem Tempolimit in England. Jetzt mache ich mir Sorgen und sage „don´t give too much german Gummi. It is just a football game“.

 

21.43h 43. Spielminute: Ankunft im Hotel. Ich renne – schneller als Götze – in die Lobby, auf der Suche nach Flachbildschirmen. Sehe aber nur eine chinesische Reis(e)gruppe in der Couchlandschaft und Rezeptionisten mit Begrüßungsgrinsen. Auf keinen Fall einchecken.

 

21.44h 44. Spielminute: Um die Ecke entdecke ich an der Bar einen Flachbildschirm, auf dem hochglänzende Hotelwerbefilmchen flimmern, davor ein Engländer, der in seinem Thunfischsalat stochert. Freundlich, aber betont, bitte ich den Barkeeper von Hotelwerbung auf WM zu schalten. Betont, aber freundlich, entgegnet er: „Yes sir, what a good idea. Who is playing?“. Nach meiner Antwort bricht bereits die Nachspielzeit an – der englische Salatesser, der indische Barkeeper und ich gucken jetzt Deutschland gegen Ghana, während mein Kamerateam eincheckt.

 

22.05h Der Engländer, Typ Staubsauger verkaufender Staubsaugerverkäufer, versucht mich in ein Gespräch über deutsches Bier zu verwickeln. Wenn der wüsste, was ich schon durch hab, denke ich. Mit starrem Blick auf den Bildschirm und sparsamen Antworten versuche ich ihm zu vermitteln, dass ich Fußball schauen will.

 

22.12h Alles gut. Der Engländer hat mich verstanden, er verabschiedet sich. Ich fieber mit meinem Kamerateam, es gibt Bier und Nougatschokolade.

Alles kommt schlimmer. Zum deutschen Achtelfinale gegen Algerien sitze ich „dank“ Drehplanänderungen im Flieger und werde mit dem Endergebnis erst am nächsten Morgen im Brüllton vom Piloten geweckt. Das erste WM-Spiel der Deutschen Nationalmannschaft, das ohne mich stattgefunden hat [mal abgesehen von meiner Säuglings- und Kleinkindphase, als ich noch fremdgesteuert von M und P agierte]. Das Leben eines Fernsehredakteurs ist manchmal wirklich kein Ponyhof…